Dr. Nathalie Tocci ist Honorarprofessorin an der Universität Tübingen und Direktorin des Istituto Affari Internazionali, dem angesehensten italienischen Think Tank mit Fokus auf internationale Politik. Im Interview spricht sie über das mangelnde EU-Budget für den Kampf gegen Klimakatastrophen, die Wahrscheinlichkeit einer gesetzlichen Verankerung von Klimaflucht und die Schwierigkeit, bei internationalen Abkommen die eigene grüne Werte-Agenda voranzutreiben.
Dieses Interview stammt aus unserem Magazin GoGreen 2023. Das rund 80-seitige Magazin steht hier kostenlos zum Download parat.
Tocci fungiert zudem als Sonderberaterin von Josep Borrell, dem Vizepräsidenten der Europäischen Kommission und Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. In dieser Funktion war sie ebenso für Borrels Vorgängerin, Federica Mogherini, tätig. In ihrem Auftrag koordinierte und entwarf Tocci 2016 die EU Global Strategy, an deren Umsetzung sie nach wie vor arbeitet. Ihre Forschungsinteressen umfassen die europäische Integration und Außenpolitik, den Nahen Osten und die transatlantischen Beziehungen der EU. Klimapolitik zählt ebenso zu ihren Fachgebieten. So hat sie im Jahr 2022 das Buch „A Green and Global Europe“ veröffentlicht. Passend zu diese beiden Schwerpunkten, spricht sie im Interview über das mangelnde EU-Budget für den Kampf gegen Klimakatastrophen, die Wahrscheinlichkeit einer gesetzlichen Verankerung von Klimaflucht und die Schwierigkeit, bei internationaler Abkommen die eigene grüne Werte-Agenda voranzutreiben.
Trending Topics: Wir haben gesehen, was der Klimawandel im Sommer 2023 in Griechenland und Italien angerichtet hat. Inwiefern ist die EU darauf vorbereitet, mit derart schwer kontrollierbaren Schäden und Kosten der Erderwärmung umzugehen? Sind aktuelle Maßnahmen wie das EU-Katastrophenschutzverfahren ausreichend?
Natalie Tocci: Die kurze Antwort lautet: Nein, das ist nicht genug. Die etwas ausführlichere Antwort ist, dass ich das Ganze in einen breiteren Kontext einordnen würde. Wenn es um die Finanzierung geht, geht es zum einen um Klimaschutz und zum anderen um Klimaanpassung, also die Anpassung an die „nicht mehr abwendbaren Folgen“ dieses Klimawandels. Bei Ihrer Frage steht die Klimaanpassung im Fokus. Es ist so: In EU-Debatten rund um die Finanzierung wird vorwiegend der Klimaschutz thematisiert. Ich denke, dass das politische bzw. ideologische Wurzeln hat, die ich persönlich auch teile. Aber offensichtlich hatte und hat genau das nun negative Folgen.
Was ich damit meine, ist, dass diejenigen, die sich für die Anpassung an die globale Erwärmung einsetzten, eher skeptisch gegenüber dem Thema Klimaschutz waren. Auf der anderen Seite waren diejenigen, die Dekarbonisierung wollten, der Meinung, dass eine ledigliche Anpassung im Grunde genommen eine Art und Weise war, anzuerkennen, dass wir nichts gegen die Klimakrise tun können. Der andere Grund, warum mehr Geld in Klimaschutz als in die Klimaanpassung investiert wurde, ist, dass man mit Klimaschutz auch mehr verdienen kann. Es werden öffentliche Geldmittel bereitgestellt und Anreize für den privaten Sektor geschaffen, in dekarbonisierte Technologien zu investieren. Mit dem Fokus auf Anpassung ist das anders.
Könnten Sie an dieser Stelle bitte näher auf den Civil Protection Mechanism, also das EU-Katastrophenschutzverfahren der EU eingehen?
Wie gesagt, im Grunde gibt es also zwei Kategorien von Gründen: Die eine ist in gewisser Weise eine politische Ideologie. Die andere ist eher wirtschaftlich geprägt. Aber beide erklären, warum es bisher eine Voreingenommenheit zugunsten der Abschwächung und nicht der Anpassung gegeben hat. Ich denke, dass das alles mit der Art und Weise, wie der europäische Green Deal konzipiert wurde, zusammenhängt. Er legte im Grunde genommen nicht viel Gewicht auf die Anpassung, was bedeutet, dass die jetzt stärker benötigten Finanzmittel gegen Brände und Überschwemmungen einfach aus alten Funds bestehen. Und hier kommen wir zum Civil Protection Mechanism, dem Katastrophenschutz. Das Problem ist, dass diese Gelder jetzt wegen der akuten Klimakrise umso relevanter werden, was bedeutet, dass man viel mehr davon braucht. Wir reden hier von mehreren Millionen Euro. Wir bekämpfen die Katastrophen nun mit Finanzinstrumenten, die für Krisen von gestern konzipiert wurden, nicht für Krisen von heute. Ja, es ist gut, dass es diesen Mechanismus gibt, aber er ist nicht wirklich auf die Bedürfnisse zugeschnitten, die es heute braucht.
Dann bräuchte es doch Alternativen für effektive Katastrophenhilfe. Wie wahrscheinlich wäre das?
In der EU haben wir siebenjährige Haushaltszyklen. Leider haben wir aktuell noch nicht einmal die Hälfte dieses Zyklus hinter uns. Was also passieren wird, ist, dass dieser Haushalt im Wesentlichen bis 2028 laufen wird und wir kratzen bereits jetzt am Boden des Fasses. Es stimmt, dass wir in der ersten Hälfte zwei große Krisen erlebt haben, die Pandemie und den Krieg, und damit auch die Energiekrise. Nebenbei natürlich auch das immer größer werdende Ausmaß der Klimakrise – und es wird Jahr für Jahr so weitergehen. Ich denke also, dass erst in der Zeit zwischen 2025 und 2027 neue Haushaltsgespräche stattfinden werden, die Katastrophenhilfe und Klima thematisieren. Dann kommt hoffentlich der Moment, in dem es offensichtlich wird, dass wir nicht das richtige Instrument haben. Wir haben sicherlich nicht genug Geld. Und das bedeutet, dass wahrscheinlich nach 2028 und dem nächsten MFR (mehrjähriger Finanzrahmen, Anm.) der neue Haushalt in gewissem Sinne so ausgestattet sein wird, dass er die Krisen bewältigen kann, mit denen wir jetzt konfrontiert sind und auch in Zukunft konfrontiert sein werden. Die kurze Antwort lautet also: Nein, es reicht nicht aus, und die Lösung wird wahrscheinlich noch ein paar Jahre auf sich warten lassen, aus dem Grund, wie der EU-Haushalt geregelt wird.
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Wie kann Solidarität zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten in so schwierigen Phasen wie jetzt wirklich gewährleistet werden?
Da verschiedene Mitgliedstaaten unterschiedlich von der Klimakrise betroffen sind, spielt das natürlich eine wichtige Rolle. Vor allem in der ersten Welle der Pandemie haben wir klar gesehen, wie ungleich verschiedene Länder betroffen waren. Solidarität war ein wichtiger Faktor, um das alles zu überstehen. Ich bin also etwas optimistischer, was die Solidarität angeht, einfach weil es hier nicht die gleichen Einschränkungen gibt wie beim EU-Haushalt.
Klimaflucht bzw. Klimamigration wird die kommenden Jahre mit Sicherheit stark prägen. Plant die EU diese Tatsache gesetzlich zu verankern und Personen den notwendigen Schutz zu gewähren?
Ich halte die gesetzliche Verankerung von Klimaflucht im EU-Kontext für unwahrscheinlich. Klimamigration findet eher auf internationaler Ebene und nicht auf EU-Ebene statt. Es wird, wenn überhaupt, zuerst darauf hinauslaufen müssen, dass der Begriff „Klimaflüchtling“ genau definiert werden muss – und das, wie ich vermute, in einem sehr eingeschränkten Sinne. Möglicher Schutz würde wahrscheinlich auch nur für kleine Inselstaaten gelten, die komplett überflutet werden. Ich denke aber, dass in praktisch allen anderen Fällen die erste Maßnahme darin besteht, innerhalb des eigenen Landes umzusiedeln, anstatt Asyl zwischen Ländern zu beantragen.
KrisenWie gesagt, Klimaflucht würde wahrscheinlich nur dann als solche anerkannt werden, wenn das betroffene Land nicht mehr existiert, weil es überflutet wurde. Ich sehe ein Gesetz dazu, um ehrlich zu sein, aber nicht einmal auf internationaler Ebene kommen. Ich denke, der Widerstand kommt aus zwei Richtungen. Zum einen gibt es diejenigen, die sich dagegen wehren, weil sie gegen eine Ausweitung des Asylrechts sind. Aber es gibt auch diejenigen, die sich gegen eine Öffnung der Genfer Konventionen wehren, weil sie befürchten, dass das politische Umfeld in der Asylfrage so verhärtet ist, dass man am Ende weniger hat, als man vorher hatte. Man riskiert bei einer zu umfassenden Öffnung zum Beispiel, Kriegsflüchtlingen das Asylrecht zu entziehen.
Wie sieht es derzeit mit internationalen Partnerschaften aus, um den Klimawandel gemeinsam besser zu bewältigen?
Die EU geht, wenn es um Klimamaßnahmen geht, gerne Partnerschaften mit Staaten ein, die ein großes Interesse daran haben, eine progressive Klima-Agenda voranzutreiben, also Regionen wie Afrika, Südostasien und Lateinamerika. Ich denke jedoch, dass eine aktuelle Herausforderung darin besteht, darüber hinauszugehen und zu versuchen, auch mit Staaten, die weiterhin fossile Brennstoffe exportieren wollen, zusammenzuarbeiten. Viele Staaten werden bei der plötzlichen Verringerung von wichtigen Importen aufgrund von anderen Werten einfach nur noch verwundbarer. Ich denke, Partnerschaften müssen nicht von Anfang an grün sein, aber sie können mit der richtigen Herangehensweise schrittweise grüner gemacht werden.
Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen wir Algerien. Algerien ist zu einem wichtigen Partner geworden, vor allem jetzt, da Italien die Lieferungen von russischem Gas eingestellt hat. Algerien ist eingesprungen, um diese Lieferungen zu ersetzen. Wir wissen, dass Algerien ein fragiler Staat ist. Was passiert also, wenn Italien oder der Rest Europas seine Gasimporte hier einfach verringert? Langfristig entstehen so nur noch mehr Probleme. In Energiebeziehungen besteht meiner Meinung nach auf allen Seiten das Interesse, sie allmählich grüner zu gestalten, was bedeutet, dass wir zwar weiterhin Gas importieren, aber schrittweise den Anteil von Investitionen in erneuerbare Energien, Kohlenstoffabscheidung und -speicherung, grünen Wasserstoff, Energieeffizienz erhöhen. Mit anderen Worten, es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie diese derzeit noch auf fossilen Brennstoffen basierenden Beziehungen im Laufe der Zeit zunehmend grüner werden.
Wie bewerten Sie die neuesten fixen Handelsverträgen der EU? Es gab kürzlich zahlreiche Negativ-Schlagzeilen bezüglich des EU-Mercosur-Abkommens. Viele Klimaaktivist:innen kritisieren es, weil seitens der EU keine Sanktionen für Umweltverstöße vorgesehen sind. Inwieweit wird die EU internationale Handelsabkommen nutzen, um den Handel umweltfreundlicher zu gestalten?
Das Abkommen ist in gewisser Weise eine Art Beweis dafür, dass die EU nun weniger mächtig ist als früher. Deswegen wird sich der Ansatz von früher, also auf der Grundlage von Werten oder Prinzipien, womöglich ändern. Es war nämlich so, und damit komme ich zum Thema Klima, dass wir den Handel und Handelsabkommen aktiv genutzt haben, um die eigene Werteagenda voranzutreiben.
Wir haben im Grunde viele Formen der Konditionalität eingeführt. Wir haben Handelsabkommen genutzt, um Reformen oder einen politischen Dialog zu erzielen, zumindest in bestimmten Menschenrechtsfragen. Und in gewissem Sinne gilt das auch für andere Bereiche. Sie haben die gleiche Logik auch auf Umweltstandards, Arbeitsnormen, das Klima im weiteren Sinne usw. angewandt. Diese Welt nach der Logik von Artikel 2 (Europäische Menschenrechtskonvention – Recht auf Leben, Anm.) ist wahrscheinlich einfach deshalb untergegangen, weil es sich um eine Welt handelt, in der vieles von der Tatsache abhängt, dass die EU viel mächtiger ist als das Land, mit dem sie ein Abkommen unterzeichnet. Und so hatte sie das Druckmittel, zu sagen: ‚Okay, gut, wir betreiben Handel, aber ihr müsst X, Y und Z tun!‘ Und genau diese Attitude hassen viele Länder. Wenn man es grob ausdrücken will, kann man sagen, sie haben sie schon vorher gehasst, aber sie hatten keine Wahl. Jetzt haben sie eine Wahl. Jetzt können sie sagen: ‚Ihr wollt nicht? Dann werden dann einfach eine Vereinbarung mit China treffen!‘, denn China mischt sich bei länderinternen Entscheidungen nicht ein.
Wie geht man besser mit der Situation um?
Man muss die Methode ändern! Wir leben, wie gesagt, nun in einer Welt, in der Staaten viele Alternativen für Partnerschaften bzw. konkrete Handelsabkommen haben, manche Länder achten Mensch und Natur, andere nicht. Die EU muss sich also fragen, wie sie zu Wirtschaftspartnerschaften kommt, die die industrielle Produktion sowohl in Europa als auch in Land XY beschleunigen und Anreize dafür setzen kann, dass nach industrieller Produktion grüne Technologien folgen? Also zum Beispiel haben wir ein Freihandelsabkommen mit Chile, und wie wir alle wissen, ist Chile ein wichtiger Produzent von Lithium. Die EU braucht Lithium. Um konkreter zu werden: Freihandel mit Chiles Lithium und dabei weiterhin darauf beharren, die Landwirtschaft in einem anderen Land zu schützen, ist so gut wie unmöglich. Und natürlich kann Chile seine Batterieindustrie nicht subventionieren, weil das gegen die Bedingungen des Abkommens verstoßen würde, da der industrielle Handel im Rahmen des Abkommens liberalisiert werden soll.
Die Frage ist also, wie kann die EU profitieren und Chile dabei helfen oder es zumindest ermöglichen, in der grünen Wertschöpfungskette aufzusteigen. Es geht im Grunde darum, das Beste aus der Situation zu machen und zu erkennen, dass wir nicht einfach von einer Form des Rohstoff-Extraktivismus zu einer anderen Form des Rohstoff-Extraktivismus (Entnahme von natürlichen Ressourcen, Anm.) wechseln können. Man kann nicht vom fossilen Rohstoff-Extraktivismus zum kritischen Material-Extraktivismus übergehen. Man muss die industrielle Entwicklung der Länder ermöglichen, mit denen man Partnerschaften eingeht.
Dieses Interview stammt aus unserem Magazin GoGreen 2023. Das rund 80-seitige Magazin steht hier kostenlos zum Download parat.
Author: Katrina Jimenez
Last Updated: 1700307121
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